WICHTIGES | UNWICHTIGES
EIN BESUCH IM NATURKUNDEMUSEUM
Tim König
Das Unwichtige ist im Museum unwahrscheinlich präsent, indem es abwesend ist. Könnte sich Wichtiges von Unwichtigem nicht trennen lassen, gäbe es keine Museen. Das Naturkundemuseum nimmt eine Sonderrolle ein, weil es den Spaß an der Freakshow bzw. des Panoptikums mit der Naturwissenschaftlichkeit in Einklang bringt. Die dort ausgestellten Dinge sind nicht nur wichtig, sie sind auch spaßig. Als ich vor dem Skelett des Giraffotitans stand, fragte eine Rentnerin im feinsten Berlinerisch ihre Begleitung, was man machen sollte, wenn einem dieser Saurier auf der Tauentzien begegnet; beim schönsten erhaltenen Exemplar des Archaeopteryx fragte eine Person, ob es wohl echt sei. Und deren Begleitung wütete: „Was meinst du denn, warum dieser Stein hinter einer fünf Zentimeter dicken Plexiglasscheibe aufgebahrt ist?!“ Im nächsten Raum erzählte ein Hobbyforscher seiner Begleitung begeistert: „Das ist der wichtigste paläontologische Fund der letzten zehn Jahre!“ – sie dreht sich wortlos um und geht. Das Publikum weiß, dass die Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem kontingent ist. Oder es weiß, dass es die Sammlungen nicht bewerten kann. Der gigantomanische Plan des Direktors Johannes Vogel wird überhört. Und das ist schön. Aber warum geht ein Deutsch-Student in das Naturkundemuseum? Vor allem wegen der ehemaligen Liebe zum Ordnen und Wissen, die ihm Was ist was?-Bücher über Dinosaurier, Minerale und Tiere anerzogen haben. Falls ihn jemand fragt, sagt er aber lieber, dass er vor kurzem etwas Literaturtheoretisches[2] über Steine gelesen habe: Es wäre eine einzige, fließende Metapher gewesen. Dann hat er einen Text gelesen, in dem plausibel nachvollzogen wurde, wie die sprachlichen Strukturen der Theorie den kristallinen Strukturen der beschriebenen Mineralien glichen. Nur: Während alldem ist ihm niemals eine Vorstellung gekommen, wie diese Mineralien aussehen würden. Deshalb sei er hier: Um Steine zu beschauen, die mit unbekannten, aber verständlichen Worten beschrieben worden wären. Doch bevor er die Mineraliensammlung betritt, fällt ihm eine Tafel auf, die das Kind in ihm berührt; und er erkennt doch, um was es eigentlich geht, was das eigentlich Wichtige ist: Poesie. System Erde - der dynamische Planet Ausstellungstext des Naturkundemuseums Berlin Die Erde ist ein ausgesprochen dynamischer Planet, der sich in ständigem Wandel befindet. Geologische und biologische Abläufe sind dabei vielfältige miteinander vernetzt. Ganze Kontinente bewegen sich, Vulkane und Gebirge entstehen und sie vergehen wieder. Angetrieben werden diese Prozesse durch gigantische Wärmewalzen im Erdinneren. Das Leben zu Wasser, Land und Luft passt sich den wechselnden Bedingungen an und beeinflusst zugleich das System Erde selbst. Das macht unseren Planeten einmalig im Sonnensystem. Die Erde ist kein isolierter Körper. Sie steht in enger Beziehung zum sie umgebenden Kosmos. Täglich fällt kosmisches Gesteinsmaterial auf die Erde, meist in der Größe von Staubpartikeln. Aber auch kilometergroße Meteoriten können einschlagen, die eine Gefahr für das Leben sind. Was genau steuert die Dynamik der Erde? Wie sind die einzelnen Vorgänge miteinander verbunden? Das komplexe Netzwerk der Erde birgt noch viele Geheimnisse. Der Text hat einen sehr beruhigenden Effekt, und könnte ebensogut einem Erziehungsratgeber wie einem Was ist was? Band entspringen. Man ersetze: Die Erde ist ein ausgesprochen dynamischer Planet, der sich in ständigem Wandel befindet. Das Kind ist ein ausgesprochen dynamisches Wesen, das sich in ständigem Wandel befindet. Die Argumentation ist klar destillierbar und hat außerdem noch einen Spannungsbogen: Zu Anfang wird Komplexität behauptet, vielfältige Vernetzung von ausgesprochener Dynamik – und wäre es nicht faszinierend, fast erotisch, die Bewegung dieser blauen Kugel anzusehen, ihre Falten zu öffnen und ihr kompliziertes Netz zu entzwirnen? Nur durch ein Fenster, ein Teleskop im Weltall zu erkennen, nähert man sich der Erhabenheit der hier unsichtbaren, inwendigen Natur: „gigantische Wärmewalzen im Erdinneren“. Vom Inneren aus zurück wird die Oberfläche und deren Einzigartigkeit geschildert: „Das Leben zu Wasser, Land und Luft passt sich den Bedingungen an und beeinflusst zugleich das System Erde.“ Bevor Innen und Außen in einer Oberfläche verschmelzen, wird die Gefahr geschildert: „Täglich fällt kosmisches Gesteinsmaterial auf die Erde […] Auch kilometerlange Meteoriten.“ Die Bedrohung kommt aus dem Kosmos, dem Außen. Die anschließenden Fragen werden sanfte Aufforderungen: Du musst lernen, alle Geheimnisse lüften, hoffend, mit dem Wissen über die Erde, deren „Beziehung zum sie umgebenden Kosmos“ zu retten. Liest man den Text nicht unter den Vorzeichen der Debatte und künstlerischen Reflexion des Anthropozäns, gehört der Mensch nicht zu diesen Geheimnissen. Stattdessen fällt er unter dem Natur/Technik-Gegensatz als industrieller Faktor zwischen die Bereiche Geologie (Raffinerien, Bergbau, …) und Biologie (Landwirtschaft, Pharmazeutik, …); aber die Liebe zum Wissen ist auch keine Eigenliebe – und der Mensch ist hier nicht als Bestandteil, sondern als Urheber in der Welt. Im danebenstehenden Raum, in dem die Gesteine präsentiert werden, sind neun Mineralogen des 19. Jahrhunderts nicht nur benannt, sondern biografisch vorgestellt – außer demjenigen, dessen Systematik für die Struktur der Ausstellung verantwortlich ist: Karl Hugo Strunz. Man kennt ihn nicht, und es scheint auch nicht wichtig zu sein, wer für die Inszenierung und Anordnung des rettenden Wissens verantwortlich ist. Aber die Liebe zu den Mineralen, deren starrem Tanz und die Männer, die diesen Tanz aufdeckten – im Saal der Steine ist das Unwichtige, auch das nach Aufmerksamkeit gierende Objekt, unsichtbar. Im Schatten der Regalreihen steht ein Stein von der Form und Größe eines Dinosauriereis; fast will ich ihn aus seinem schwarzen Eisenständer befreien und exponieren; obwohl er ungeschützt an der Luft steht, traut man sich kaum, ihn zu berühren; vielleicht, doch, aus Nachlässigkeit. Kein Wunder, dass man hier auch schwarzes, ölig-regenbogenfarbiges Goethit vorfindet, neben den unzähligen Exponaten, die in Schaukästen wie auf Fließbändern präsentiert werden. Es ist wichtig, aber es sticht nicht heraus. Wenigstens im Mittelgang wird Ceran vorgestellt, kratzfester, tiefschwarzer und künstlicher Stein der Marke „Schott“, daneben wenige andere Anwendungsfelder der Mineralogie. Man sieht: Der Ausstellungsraum selbst ist ein Relikt, ein langweiliges noch dazu.[3] Wichtig sollen hingegen die Geniebilder sein, deren komplexe Vernetzungen in die Wirtschafts- und Wissenschaftswelt des 19. Jahrhunderts und deren spätere Schenkungen oder Erwerbungen die Sammlung derartig reichhaltig haben auswachsen lassen, dass heute „rund 75 Prozent aller bekannten Minerale“[4] von der Sammlung umfasst werden. Dass diese Sammlungen zu einem Teil aus kolonialen Verhältnissen stammen: Mit zwei Gedankenschritten erkennbar, wenn man Funddatum und -ort liest: Tansania, ausgehendes 19. Jahrhundert. Reflektiert wird es nicht. Die Menschen und ihre unauflösbare Verquickung mit dem Künstlichen und Natürlichen, Menschen, deren Nervenenden als Gesteinsverästelungen (‚Dendriten‘) beschrieben werden können, spielen keine Rolle. Würden sie, ließe sich das Wichtige und Unwichtige nicht trennen. Glücklicherweise ist das alles so überragend öde, dass sich hier keine Besucherinnen und Besucher aufhalten. Auch werden sich wohl die wenigsten Schulklassen nur im Ansatz für die Dinge begeistern lassen, die hier präsentiert werden. Aber so sieht es aus, wenn das Wichtige vom Unwichtigen getrennt wird: Eine ungerechte Geschichtsschreibung und epische Langeweile. Und die literaturtheoretischen Steine habe ich auch nicht gefunden. Der Literaturtheoretiker Caillois hat sich an vielen Mineralogen orientiert, aber nicht an Strunz. Tim König studiert Deutsch und Philosophie/Ethik im Lehramts-Master an der HU Berlin. Er ist Mitherausgeber der studentischen Zeitschrift anwesenheitsnotizen, schreibt für booknerds.de und arbeitet als Nachtrezeptionist in einem Berliner Jugendgästehaus. Er war vor Kurzem an der Übersetzung des vergessenen DADA-Romans Sekunde durch Hirn (Second through brain) von Melchior Vischer beteiligt; erschienen und bestellbar bei Equus Press. [1] Ein Sack voller Pläne. Interview mit Johannes Vogel. Von Andreas Sentker. In: Die Zeit 5/2012. [2] Caillois, Roger: Steine. Aus dem Französischen von Gerd Henniger. München: C. Hanser 1983. 1966 (=Edition Akzente). Darauf gestoßen bin ich über einen Artikel in anwesenheitsnotizen. [3] Auf der Website wird es umgewertet, die Minerale werden dort in einem „weitgehend original erhaltenen Saal aus dem 19. Jahrhundert“ vorgestellt. [4] Vgl.: http://www.naturkundemuseum-berlin.de/sammlungen/mineralogie-petrographie/mineralien/ |