ARBEIT | LEBEN
TAGEDIEBIN
Eva Schellenbeck
Ich bin im Urlaub. Einem hart ersparten Urlaub. Den ganzen Tag über habe ich schätzungsweise 50 Schritte gemacht, vom Bett ins Bad, in die Küche, zum Liegestuhl und wieder zurück. Ich habe einen Mittagsschlaf gehalten und selbst den Sonnenuntergangsspaziergang, den ich mir eigentlich vorgenommen habe, werde ich wohl nicht mehr machen und stattdessen weiter im Liegestuhl sitzen, vielleicht ein Glas Wein dabei trinken. (Der Gedanke gefällt mir so gut, dass ich mir jetzt gleich den Wein holen gehe.) So, zurück zum Problem: dem Liegestuhl. Denn anstatt diesen grandios faulen Tag in vollen Zügen zu genießen und mich einfach nur meines Blickes durch die Palmenzweige hindurch aufs Meer zu erfreuen, mache ich mir das Leben schwer. (Im Meer schwimmen war ich übrigens auch nicht, dafür hätte ich ungefähr 900 Stufen runter und vor allen Dingen wieder hoch gehen müssen. Stattdessen habe ich ab und zu eine kalte Dusche genommen.) Den ganzen Tag über schon meldet sich in mir eine Stimme, die mir ein solches Maß an Unproduktivität vorwirft. Denn eigentlich bin ich hierher gekommen, um zu schreiben, einen Roman, oder wenigstens den Anfang davon. Das klappt aber gerade nicht. Gut möglich, dass es nie klappen wird. Gestern habe ich mich dazu gezwungen, es war schrecklich. Heute habe ich die Hitze (38 Grad) als Anlass genommen, es gar nicht erst zu versuchen. Und das werfe ich mir nun vor. Dahinter liegt ein noch viel größeres Problem: der Glaube, dass ich einen faulen Urlaub nicht verdient habe. Denn streng genommen brauche ich gar keine Erholung. Seit ich vor gut einem Jahr beschlossen habe, nur noch 20 Stunden die Woche zu arbeiten, habe ich so gut wie keinen Stress mehr in meinem Leben und bin quasi dauererholt. Anders als früher, als ich noch bei Urlaubsbeginn erschöpft zusammengesackt bin, ausgebrannt, aber mit einem Gefühl der ultimativen Befriedigung. Wohlverdienter Urlaub für das Arbeitstier, das danach wieder zurück an den Arbeitsplatz kehrt, um maximal effizient zu arbeiten, mit möglichst wenig Ermüdungs- und Abnutzungserscheinungen. Die hatte ich dann aber leider trotzdem irgendwann, deswegen habe ich auch damit aufgehört. Aber zurück zu diesem Urlaub und meinem Konflikt. Hat sich jemand, der so lächerlich wenig arbeitet wie ich, überhaupt Urlaub verdient? Die Stimme in meinem Kopf sagt nein. Als vor einigen Stunden auch noch mein Vermieter schwitzend mit seinem Esel an meinem Haus vorbei den Hang hinunterlief, um die gerade eingetroffene Tiernahrung am Hafen abzuholen und dabei sagte, dass er immer nur am Arbeiten sei, hat sich die Stimme bestätigt gefühlt. Fest steht, ich habe heute nichts Produktives geleistet. Sollte ich diesen Text zu Ende schreiben, gibt es wenigstens etwas, das ich zu meiner Verteidigung anbringen kann und ich weiß, dass es mir helfen wird, mit einem besseren Gefühl ins Bett zu gehen.
Genau dies ist der springende Punkt, das Messen des Lebens, fast möchte ich sagen des Seins, am Grad der Produktivität. Ich leiste, also bin ich. Das ist die Botschaft, die uns unsere kapitalistische Gesellschaft mit auf den Weg gibt. Nur wer etwas vorzuweisen hat, etwas produziert, am besten natürlich von möglichst hohem ökonomischen Wert, zählt etwas in dieser Gesellschaft. Ich habe diese Botschaft so sehr verinnerlicht, dass ich seit einem Jahr, seit ich eben nur noch Teilzeit arbeite und diese Doktrin in Frage stelle, mit mir selbst auf Kriegsfuß stehe. Oft werde ich gefragt, was ich mit dem Rest meiner Zeit anstelle, und fast genauso oft traue ich mich nicht zu sagen: nichts. Das Leben genießen. Stattdessen flüchte ich mich in vage Ausreden, fasele etwas von eigenen Projekten. Und fragen tun alle. Selbst die Aussteigerin, die diese Ferienhäuser hier gemeinsam mit ihrem Partner vermietet. So abwegig scheint die Vorstellung, die eigene Lebenszeit für etwas anderes als Arbeit nutzen zu wollen. Und dass, obwohl die Idee des Müßiggangs ja an sich überhaupt nicht neu ist. Mein Vermieter erzählte mir kürzlich etwas von der „Tunix“-Bewegung der 70er Jahre, die sich, wie der Name schon sagt, das Nichts-tun auf die Fahne geschrieben hatte. Und auch vor ihnen gab's bestimmt schon viele andere, die so gedacht haben (um Genaueres rauszufinden müsste ich recherchieren, doch erstens gibt’s hier kein Internet und zweitens wäre das Arbeit), doch das waren wohl immer eher Randgruppen. „Sein Leben war Müh und Arbeit“ stand in großen Lettern auf einem alten Grabstein, an dem ich letztens, während meiner vielen Freizeit, vorbei spaziert bin. Es war die höchste Auszeichnung, die sich die Hinterbliebenen vorstellen konnten, die höchste Auszeichnung, die sich unsere Gesellschaft über viele Generationen hinweg vorstellen konnte. Als ich meiner Oma erzählte, dass ich einen neuen Job habe, fragte sie: „Einen Richtigen?“ Eine Teilzeit-Stelle qualifiziert sich in ihren Augen dafür nicht. Etwas anderes wäre es natürlich, hätte ich ein Kind oder würde einen kranken Verwandten pflegen, dies sind für meine Oma die einzigen legitimen Gründe, nicht bis zum Umfallen zu arbeiten. Dann würde ich in ihren Augen und denen der Gesellschaft einen wichtigen, wenn auch unbezahlten und zu wenig wertgeschätzten Beitrag zu ebendieser leisten. Da ich keines von beidem habe bzw. tue, rede ich bei Telefonaten mit meiner Oma lieber von den vielen Überstunden, die ich mache (was für ca. eine Woche vor einigen Monaten auch mal der Fall war) und versuche mich vor ihr und mir selbst zu rechtfertigen. Ich mache meiner Oma keine Vorwürfe. Zu der Zeit, als sie in einer strengen Dorfgemeinschaft aufwuchs, hatte sie nicht mal ansatzweise die Möglichkeiten, die ich heute habe und die Dinge in Frage zu stellen, hätte sie auf Dauer wahrscheinlich nur unglücklich gemacht. Die Verknüpfung des Wertes eines Lebens mit dessen Produktivität steckt so tief in ihr drin wie der Glaube an Gott, und damit ist sie kein Einzelfall. Meine Mutter hat mir kürzlich eine Geschichte erzählt, die sie vor Jahren einmal von unserem Dorfkrämer gehört hatte. Sein ganzes Leben stand er hinter der Theke seines kleinen Tante-Emma-Ladens und bediente tagein tagaus seine Kunden, selbst als diese irgendwann lieber in den neuen Supermarkt ins Nachbardorf fuhren. Einmal allerdings musste er an einem Wochentag in die Stadt fahren, um zum Arzt zu gehen. Er war zu früh dran und setzte sich vor den Kaufhof auf eine Bank, am helllichten Tag, eine ganze halbe Stunde. Es war für ihn eine fast nicht auszuhaltende Qual, er habe sich gefühlt, wie ein Tagdieb, gestand er meiner Mutter. Ich bin also eine Tagediebin, eine Meisterdiebin noch dazu. Glaubt man den Medien, befinde ich mich als Vertreterin der „Generation Y“ damit ja in guter Gesellschaft. (Ob die anderen Ypsiloner*innen auch solche Gewissensbisse beim Faulsein haben?) Die ältere Generation wird das wohl niemals ganz verstehen können und einige meiner Freunde wohl auch nicht. Ich hoffe jedoch, dass ich irgendwann an einem Punkt komme, an dem mir das egal ist. Denn es war und ist die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Und dass wir als Gesellschaft an einen Punkt kommen, an dem wir Menschen nicht mehr danach bemessen, was sie machen und erreicht haben, sondern wer sie sind, einfach nur so, als Mensch. Oder am besten gleich ganz aufhören mit dem Messen und Werten. Die Sonne ist jetzt übrigens untergegangen, das wird also definitiv nichts mehr mit dem Spaziergang. Vielleicht aber dafür mit dem faulen Urlaub mit gutem Gewissen. Eva Schellenbeck versucht möglichst wenig zu arbeiten und möglichst viel Raum für Anderes zu haben, allem voran Freund*innen, Schreiben und Kochen. Ihre Miete zahlt sie Dank eines Jobs beim Dokumentarfilm. |