ARBEIT | LEBEN
LET'S CARE!
Natalie Stypa
8. März 2020
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Für Mama
Meine Mutter kümmert sich um ihre Mutter. Meine Oma ist 91 Jahre alt und blind. Die beiden wohnen zusammen. Meine Mutter kocht, schmiert meiner Oma Brote und gießt ihr Kaffee ein. Meine Oma gibt sich zwei Stück Würfelzucker in die Tasse und rührt um. Meine Mutter hilft ihr beim Duschen, wäscht ihr die Haare, schneidet die Nägel und hilft ihr beim An- und Ausziehen. Meine Oma hat die obere Etage im Haus und meine Mutter die untere. Die Decke ist dünn. Manchmal verläuft sich meine Oma in ihrer Wohnung. Manchmal wird ihr schwindelig. Manchmal ist ihr Blutdruck sehr hoch. Manchmal hat sie Krämpfe in den Beinen.
Meine Mutter ist 24 Stunden am Tag im Einsatz. Wenn sie nicht Essen macht, aufräumt, putzt, wäscht, bügelt oder einkaufen geht, wenn sie unten ist und sich entspannt, liest, Klavier spielt, mit Freundinnen telefoniert, Emails schreibt oder Fernsehen schaut, ist sie mit einem Ohr immer oben. Nachts wird sie häufig wach, wenn sie meine Oma hört. Ich weiß nicht, wie oft sie jeden Tag die Treppe rauf und runter läuft. Sie hat nie Feierabend und nie Wochenende. Meine Mutter leistet Care-Arbeit. Der Begriff kommt aus dem Englischen. I care about you bedeutet: Ich sorge mich um dich, du bist mir wichtig. I am taking care of you bedeutet: Ich kümmere mich um dich und deine Bedürfnisse. Care-Arbeit vereint also emotionale und körperliche Arbeit. Sie kann Versorgung, Erziehung und Betreuung anderer Menschen beinhalten. Eingedeutscht wird auch von ‚Sorgearbeit’ oder ‚Pflegearbeit’ gesprochen. Größtenteils wird sie von Frauen geleistet, ist nicht oder schlecht entlohnt, und genießt wenig Ansehen. Meine Mutter arbeitet nicht, erzählte ich als Kind, wenn ich nach ihrem Beruf gefragt wurde. Weil Hausfrau ja keiner ist. Gegen diese verzerrte Wahrnehmung kämpften Frauen bereits in den 70er Jahren, und forderten Lohn für Hausarbeit. Nur wie könnte es überhaupt vergütet werden, wenn meine Mutter 24 Stunden in Bereitschaft ist? In gewisser Weise werden pflegende Angehörige in Deutschland durch das Pflegegeld bezahlt – doch wenn wir davon den Stundenlohn berechnen würden, wäre der lächerlich. Das findet auch die Soziologin Gabriele Winker: „Und auch wenn Familien zusätzlich Pflegegeld erhalten, entspricht diese Bezahlung in keiner Weise dem Zeitaufwand und den damit verbundenen physischen und psychischen Belastungen.“ Denn diese Belastungen sind enorm. In einer Umfrage der Techniker Krankenkasse von 2013 gaben fast 40% der pflegenden Angehörigen an, sie stünden unter Dauerdruck – fast doppelt soviel wie der Bundesdurchschnitt von 20%. Auch private Pflegefachkräfte verdienen nicht gut. Viele von ihnen sind Migrantinnen aus wirtschaftlich schwächeren Ländern, die ihre eigenen Kinder oder alten Eltern in ihren Herkunftsländern zurücklassen mußten. Diese werden von anderen Frauen der Familie versorgt. Oder von Frauen aus wiederum ärmeren Ländern. In Deutschland sind es häufig Frauen aus Osteuropa, die oft ohne Absicherung ältere Menschen betreuen, und das rund um die Uhr. Zu dem Problem der fehlenden oder geringen Bezahlung kommt ein Mangel an Ansehen. Als Kind der sozialen Mittelschicht, das in stabilen politischen Verhältnissen aufwuchs und aufs Gymnasium ging, wurde mir Selbstverwirklichung als großes Ziel verkauft – und zwar in Form eines Berufs, in dem ich meine Fähigkeiten entfalten kann, der mir Spaß macht, und der im Idealfall auch gut bezahlt wird. Am besten bezahlt werden die Berufe, die ein Studium verlangen. Pflegearbeit scheint da auf den ersten Blick überhaupt nicht reinzupassen. Aber muß ich denn unbedingt studiert haben und viel verdienen, damit mein Leben erfüllt ist und ich als wertvolles Mitglied der Gesellschaft gelten kann? Ist der Chef der Deutschen Bahn wichtiger für mein Wohlergehen als die Servicekraft, die die Zugtoilette putzt? Wertschätzung hat mit Werten zu tun, und so geht es hier ans Eingemachte: um die Frage, worauf wir unser Leben und unser Miteinander aufbauen wollen. So betrachtet kann Selbstverwirklichung vielleicht auch heißen: zu erkennen, was mir selbst wichtig ist, und eine Arbeit zu wählen, mit der ich dies verwirklichen kann. Dagegen geht die Annahme, daß ich mich nur selbst verwirklichen kann, wenn ich materielle oder immaterielle Güter produziere, die verkauft und konsumiert werden können, einem jahrhundertealten Irrglauben auf den Leim: daß nur das wertvoll sei, was einen Marktwert hat. Dieser Glaube wurde zur gleichen Zeit wie Sorgearbeit selbst ‚erfunden’ – als Arbeit unterteilt wurde in die Produktion von Gütern einerseits, und Sorgearbeit andrerseits. Eine andere Bezeichnung für sie ist daher ‚Reproduktionsarbeit’, weil sie sich um das Wohlergehen derjenigen kümmert, die produzieren. Diese Aufspaltung vollzog sich vor mehreren Hundert Jahren mit der Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftsmodells. Im Europa vor dem Kapitalismus gab es keine Trennung von Produktion und Reproduktion. Auf dem Land arbeiteten Frauen und Männer im Haushalt wie auf den Feldern, und keine Tätigkeit galt als wertvoller. In den Städten standen Frauen im 13. Jahrhundert sämtliche Berufe offen. Sie arbeiteten als Schmiedinnen, Schlachterinnen, Brauerinnen und Ärztinnen. Im 14. Jahrhundert verkleinerte sich die Bevölkerung Europas durch die Pest um ein Drittel. Damit schrumpfte auch die Anzahl der Arbeitskräfte, weswegen Löhne gezwungenermaßen stiegen. Die herrschenden Klassen sahen dadurch den Fortbestand ihres Reichtums gefährdet. Als Gegenmaßnahme privatisierten sie Land, das zuvor von allen gemeinsam genutzt werden konnte. Gerade den Ärmeren wurde so eine wichtige Möglichkeit genommen, ihre Nahrungsmittel selbst anzubauen, zu sammeln, oder zu jagen. Stattdessen mußten sie sich nun ihren Lebensunterhalt verdienen. Auf diese Weise wurde immer weniger direkt für den eigenen Bedarf produziert, und immer mehr für den Handel. Die Arbeit dagegen, die rund um das eigene Zuhause verrichtet wurde, galt plötzlich als weniger wertvoll, weil sie nicht bezahlt wurde. So kam es zur Aufspaltung in Produktion und Reproduktion. Der Markt, für den produziert wurde, wurde immer internationaler, und die Handelnden immer mehr darauf bedacht, einen möglichst großen Gewinn zu erzielen. Dadurch sanken die Löhne im 16. Jahrhundert wieder, und zwar besonders drastisch für Frauen. Arbeitgeber stellten deswegen gern weibliche Arbeitskräfte ein. Dagegen regte sich unter den männlichen Arbeitern Widerstand. Den Autoritäten kam dies nicht ungelegen. Sie sahen darin die Möglichkeit, Frauen gänzlich aus der Produktion und komplett in die Reproduktion zu drängen, und somit den Nachschub der Ressource Mensch sicherzustellen. Frauen sollten nun also ihre Männer bekochen und Kinder kriegen. Um dies zu rechtfertigen wurde propagiert, daß das Sich Kümmern um andere in der Natur der Frauen läge, und diese Rolle somit perfekt sei für sie. Um dieser hinterlistigen und langlebigen Werbestrategie entgegenzutreten, müssen wir nicht sofort alle Care-Arbeit verweigern. Allerdings würde ihre Verweigerung eindringlich veranschaulichen, daß ohne sie nichts mehr laufen würde in unserer Gesellschaft. Wir brauchen bestimmte Güter wie Lebensmittel und Häuser. Aber genauso brauchen wir andere Menschen, die sich um uns kümmern, sei es in Form von Essenkochen, Windelnwechseln, oder emotionalem Beistand. Abgesehen davon, daß Reproduktion unabkömmlich ist, tut sie außerdem genau das, woran es unserer kapitalistischen Wirtschaftsweise mangelt: sie konzentriert sich auf die Menschen und ihre realen Bedürfnisse. Wie schön wäre es, wenn die Produktion das von ihr lernen könnte – und sich statt auf Profitmaximierung auf das konzentrieren würde, was Menschen wirklich brauchen und wollen. Das wäre dann natürlich das Ende des Kapitalismus. Sorgearbeit hat also allen Grund, stolz auf sich zu sein. Und so weisen Sorgearbeit, unser Wissen um ihrer Geschichte und ein neues Selbstbewußtsein uns den Weg zu einer besseren Gesellschaft – mit weniger unnützen Plastikartikeln, die unsere Erde vermüllen, und mehr Zeit für die Pflege von Gemeinschaft und sozialen Beziehungen. Und zwar nicht nur von romantischen Beziehungen, die in unser Kultur so häufig im Mittelpunkt stehen. Sondern von den Beziehungen zu unseren Müttern, Omas, Freundinnen, Nachbarn und ganz allgemein: den Menschen um uns herum. Denn diese sind mindestens genauso wichtig. Ich will meine Mutter nicht für ihre Aufopferungsbereitschaft bewundern. Denn wenn ich ihre Pflege-Tätigkeit als Aufopferung betrachte, mache ich zwei Fehler: Erstens hänge ich dann immer noch dem uralten Irrglauben an, daß Sorgearbeit weniger wert sei als die Arbeit, die etwas produziert, was verkauft werden kann. Und zweitens würde ich davon ausgehen, daß Sorge eingleisig ist und ausschließlich die Bedürfnisse derjenigen, die sie erhalten, befriedigt. Das stimmt ebenfalls nicht. Auch Bedürfnisse der sorgenden Personen werden erfüllt. Zum Beispiel das Bedürfnis, einer wichtigen und sinnvollen Arbeit nachzugehen. Das tut meine Mutter und dafür bewundere ich sie. Denn meine Mutter arbeitet – und wie sie arbeitet. Sie hat keinen Impfstoff gegen Krebs entdeckt und keinen Oscar gewonnen. Aber ihre Arbeit macht einen riesigen Unterschied. In meinem Leben und in dem meiner Oma. Und damit auch in der Gesellschaft. Für mich bist du eine Heldin, Mama! Verwendete Literatur Zahlen und Statistiken zur heutigen Situation (z.B. daß die meiste Care-Arbeit von Frauen geleistet wird): Gabriele Winker und Matthias Neumann: Sorge und Solidarität. Von verbindender Care-Politik zur solidarischen Gesellschaft. https://care-revolution.org/wp-content/uploads/2019/09/09-Sorge_und_Solidarit%C3%A4t.pdf. August 2019. Seite zuletzt aufgerufen am 08.03.2020. Zitat von Gabriele Winker aus: Gabriele Winker: „Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive“ in: Das Argument 292, 3/2011. Online unter https://www.tuhh.de/t3resources/agentec/sites/winker/pdf/DA292_winker.pdf. Seite zuletzt aufgerufen am 08.03.2020. Umfrage der Techniker Krankenkasse: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/56974/Pflegende-Angehoerige-oft-im-Dauerstress. Seite zuletzt aufgerufen am 08.03.2020. Alles zur historischen Entwicklung nach: Silvia Federici, Caliban und die Hexe: Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. (Erschienen 2012; Englische Erstausgabe erschienen 2004.) Zum Weiterlesen Online: https://care-revolution.org/ https://wirfrauen.de/lohn-fuer-hausarbeit/ Gedruckt: Das Argument 292, 03/2011: Care – eine feministische Kritik der politischen Ökonomie? |